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Johann L. Juttins

Wenn einer eine Reise tut

Jüdische Kultusgemeinde Essen

Hat Essen noch eine jüdische Religionsgemeinschaft?

Das schöne alte deutsche Sprichwort sagt im zweiten Teil «...dann kann er was erleben». Und so habe ich mir mit dem Wiedererscheinen der «Jüdischen Zeitung» seit diesem Herbst vorgenommen, mal hierhin und mal dorthin zu reisen um zu erleben, was es Neues gibt, Erfreuliches und Veränderungen. Oder Altes, Unangenehmes und Erstarrtes. Meine erste Station war «Michelsohns Reich» in Bielefeld. Sie hat mir übrigens ihren Anwalt geschickt, statt selbst zu kommen und mit mir darüber zu reden, was in «ihrer» Gemeinde nun wirklich los ist oder was nicht. Für diese Ausgabe habe ich mich ein wenig in Essen umgeschaut.

Natürlich hat auch Essen eine Jüdische Gemeinde. Sie zählt etwas mehr als 900 Mitglieder und fungiert als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Warum, weiß ich nicht wirklich, in jedem Fall jedoch hat das den Vor- oder Nachteil, ganz wie man will, dass diese Gemeinde nicht vom Landesverband oder dem Zentralrat der Juden in Deutschland finanziert, geführt und auch, ja auch das, kontrolliert werden kann. Das Budget der Gemeinde, immerhin etwa 700.000 Euro pro Jahr, kommt daher zu großen Teilen vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Essen.

Jewgenij Budnizki leitet die Gemeinde seit vielen Jahren. Der ehemalige Fräser, spätere Ingenieur und schließlich Betriebsgewerkschaftschef ist bei einem großen Waffenproduzenten tätig gewesen ist. Das passt ja zu Essen, man denkt an Krupp und die Villa Hügel und seit ein paar Monaten auch wieder an Iris Berben, die in einer ZDF-Triologie die Bertha Krupp so wunderbar verkörpert hat. Die Berben ist übrigens bekanntermaßen keine Jüdin, doch sie engagiert sich seit vielen Jahren auf hoch anerkennenswerte Weise für das Judentum. Der Essener Gemeindechef Budnizki hingegen ist natürlich Jude!

Kein Verständnis des Vorstandes für religiöse Belange?

Was also sollte er tun, wo und wie sich engagieren? Zum einen darf man sicher erwarten, dass ein Gemeindevorsitzender recht jüdisch lebt. Nicht so Budnizki: Er soll sich von seiner ersten nicht-jüdischen Ehefrau getrennt haben, um eine zweite, nicht-jüdische Frau zu ehelichen. Selbstverständlich nicht vor einem Rabbiner, denn den gibt es seit über zwanzig Jahren in der Essener Gemeinde überhaupt nicht mehr – und Budnizki soll das auch zu keinem Zeitpunkt seiner Amtsführung habe ändern wollen. Es gibt zwar auch einen Gemeinderat und einen Vorstand in der Gemeinde, aber auch denen scheint das Religiöse an ihrer Religionsgemeinschaft nicht ganz so wichtig zu sein.

Vor etwa zwei Jahren , in der «JZ»-September-Ausgabe des Jahres 2007, erklärte uns Budnizki zum Leben in der Essener Gemeinde, er wolle «die Gemeinde zu einem Haus aller Juden machen, auch für deren Familienmitglieder, eine möglichst große Anzahl ortsansässiger Juden und ihre Familienangehörigen ermuntern, zur Gemeinde zu kommen, nicht nur formell ein Gemeindemitglied zu sein, sondern aktiv am Gemeindeleben teilzuhaben, […], eine größtmögliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen zur Teilnahme am Gemeindeleben animieren, denn nur darin sieht die Gemeinde ihre Zukunft...». Im Übrigen wollte er uns seinerzeit nicht «mit Details aus meiner [...] Arbeit belasten.» Dafür waren wir sehr dankbar, sind aber nun dennoch so frech, auf Reisen zu gehen, um uns anzuschauen, was denn aus den großen Plänen und den kleinen Details geworden ist.

Nun ja, da ist eben die Sache mit dem Rabbiner, die eine jüdische Gemeinde ausmachen sollte. Eine gewisse Zeit, das mag wohl gehen, aber zwei Jahrzehnte lang? Woran liegt es? Müssen wir den Vermutungen anderer Journalistenkollegen folgen, die annehmen, die Nichtbesetzung einer Essener Rabbinerstelle könne in der Unfähigkeit des Vorstandes begründet liegen, Verständnis für religiöse Belange bei denjenigen zu wecken, von denen die Finanzierung dieser Stelle abhängt? Oder gar in der Unfähigkeit, mit den vorhandenen Geldern richtig umzugehen? Schlimmer noch – in der Ablehnung qualifizierter Personen aufgrund der Angst vor möglicher Konkurrenz in der Gemeindeverwaltung?

Stimmen für den Vorstand von gemischten Paaren

Kann sein, meine ich, denn ein Rabbiner könnte irgendwann beginnen, auch Fragen in Richtung dieser Verwaltung zu stellen, etwa danach, wieso der Chef des Ganzen entgegen der Gemeindeordnung ausdrücklich auch nicht-jüdische Familienmitglieder auffordert und berechtigt, sich am Gemeindeleben zu beteiligen. Dass sich die Gemeinde damit mehr und mehr von ihren originären Aufgaben als Religionsgemeinschaft abwendet und die staatlichen Gelder, die für die Pflege und Förderung des Judentums aufgewendet werden, auch Nichtjuden zukommen lässt, könnte einen Rabbiner durchaus verstören und vielleicht die Führung des Jewgenij Budnizki zumindest hinterfragen, wenn nicht sogar mehr. Dass dieser kein Interesse an solchen Fragen haben könnte, wird der Leser leicht verstehen, wenn er sich seiner oben beschriebenen Ehen erinnert.

Nicht, das ich falsch verstanden und auch vor einen Essener Richter gezerrt werden will: Ich bewundere nicht-jüdische Eheleute, die mit religiösen Partner ihr Leben gestalten, auch und vor allem dann, wenn sie nicht den Weg des Übertritts wählen. Sich jedoch auf bauchkraulerische Weise möglicherweise über Jahre die Stimmen für die Wiederwahl von denjenigen sichern zu wollen, die aus gemischten Ehen stammen, halte ich für sehr fragwürdig. Immerhin müsste man dafür wohl eine ziemliche Verwässerung des religionsgemeinschaftlichen Grundanliegens der Jüdischen Gemeinde Essen in Kauf nehmen.

Wie also steht es mit dem Bauchkraulen? Im Kinderklub der Gemeinde sollen noch nicht einmal 30 Prozent der Kinder eine jüdische Mutter haben. Ähnlich soll es in der Jugendgruppe aussehen, wo man von lediglich etwa zehn Beschneidungen, Bar- und Bat-Mitzwot in den Jahren seit der russisch-jüdischen Zuwanderung spricht. Eine einzige Hochzeit gab es im letzten Jahr. Wo landen diese jungen Juden dann eigentlich? In der Abkehr vom Glauben, wo denn sonst. In Essen könnte auch eine offensichtliche Missachtung von religiösen Grundsätzen durch den Gemeindevorstand der Auslöser dafür sein.

Gajsman: «Ungeheure Geldsummen verlängern Zeit des Sterbens»

Der Staat, vertreten durch die Landesregierung, fährt indes gemeinsam mit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz fort, alles dafür zu tun, gerade dem Religiösen in der Essener Gemeinde eine gute Grundlage zu geben: 100.000 Euro wurden für die Restaurierung der Mikwe, des Ritualbades, gewährt und der Integrationsbeauftragte der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen spricht seit dem Herbst mit Budnizki über die Bewilligung von Mitteln in Höhe von 950.000 Euro für die Rekonstruktion des Gemeindezentrums aus dem Jahre 1959, rechtzeitig also zum 50. Jahrestag der Eröffnung des imposanten Kuppelbaus.

Die Gemeindezeitung berichtete bereits stolz von einem «Redaktionskollegium für die Ausgabe einer Broschüre zum 50-jährigen Bestehen der jüdischen Gemeinde an der Sedanstraße 46» und die Stadtverwaltung soll einen Festakt, wohlgemerkt angeblich mit kostenpflichtigem Eintritt, mit 30.000 Euro finanziert haben. Aber gibt es diese Gemeinde tatsächlich noch – als eine wahrhaft jüdische Religionsgemeinschaft? Sieht man auf die oben genannten Zahlen, wäre wohl eher ein Neuanfang nötig. Doch davon war bei meiner Reise nichts zu erfahren.

Viel mehr jedoch über einen Fakt, den ich seit langen Monaten in so mancher Gemeinde beobachten muss: Michal Gajsman, die aus der Gemeinde an der Ruhr ausgetreten ist, bezeichnet den Führungsstil in der Gemeinde als «diktatorisch». Wenn dann auch noch deutsche Beamte hinzukommen, die, wie eine andere jüdische Zeitung hierzulande kürzlich die Situation beschrieb, «beschämt durch die Vergangenheit jedes Maß im Umgang mit den Juden verloren haben und durch ungeheure Geldsummen nur die Zeit des Sterbens verlängern», dann ist das Wort vom Sterben nun eben gefallen! Zu spät zum Leben, zum jüdischen Leben, ist es allerdings auch in Essen noch nicht.

Extrazitat:

Liegt die Nichtbesetzung einer Essener Rabbinerstelle in der Unfähigkeit des Vorstandes begründet, Verständnis für religiöse Belange bei denjenigen zu wecken, von denen die Finanzierung dieser Stelle abhängt?
«Jüdische Zeitung», Dezember 2009